DIE WIRSITZER UND BROMBERGER KREISBAHN

Mit insgesamt etwa 150 km Streckenlänge ist das Netz dieser 600 mm-Schmalspurbahn das wohl längste erhaltene seiner Art in ganz Europa. Die Ursprünge gehen auf das Jahr 1895 zurück. Damals stand die Region um Bydgoszcz unter deutscher Herrschaft, und die Stadt hiess Bromberg.

Am 21.2.1895 wurde der erste Abschnitt der "Wirsitzer Kreisbahn" eröffnet (die Stadt Wirsitz heisst heute auf polnisch Wyrzysk). Sie führte von Weissenhöhe ( polnisch Bialosliwie, an der normalspurigen Strecke der Ostbahn von Schneidemühl /Pila nach Bromberg /Bydgoszcz gelegen) 30 km nach Lobzenica, mit einem Abzweig von Czajcze nach Wysoka (5 km). In den Folgejahren wurde das Streckensystem immer weiter entwickelt bis zu einem Höchststand von 167,5 km Streckenlänge.

Parallel dazu eröffnete etwas weiter östlich am 12.5.1895 die Bromberger Kreisbahn ihr ebenfalls auf 600 mm geführtes Streckennetz. Es verlief vom normalspurigen Bahnhof Maksymilianowo (an der normalspurigen Strecke Bromberg-Danzig/Gdansk) nach Ga,decz. Bald folgten weitere Abzweige, unter anderem wurde eine Verbindung zur Wirsitzer Kreisbahn in Suchary gebaut. 1907 wurden die zwei Teile des Bromberger Schmalspurnetzes dadurch verbunden, dass über den Fluss Brahe (polnisch Brda) bei Krone (polnisch Koronowo) eine Brücke gebaut wurde. Nun hatte das Bromberger Schmalspurnetz eine zusammenhängende Länge von 105 km. Mit der Erlangung der polnischen Unabhängigkeit wurde das gesamte Netz zur "Bydgoskie Koleje Powiatowe" (Bromberger Kreisbahnen).

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde die Brücke bei Koronowo durch deutsche Militärtruppen zerstört. Nach dem Krieg wurde sie durch die polnische Staatsbahn PKP, welche das gesamte Streckennetz übernahm, wieder als Fischbauchträgerbrücke aufgebaut. Nunmehr hiess die Strecke "Bydgoskie Koleje Wa,skotorowe" (Bromberger Schmalspureisenbahnen). Zum PKP-Bestand gehörten 1949 ein Streckennetz von 256 km mit 6 Umschlagstationen zur normalspurigen Bahn, 8 Lokschuppen und zwei Reparaturwerken in Koronowo und Bialosliwie. 1955 wurden auf dem Streckennetz 256.000 Tonnen Frachtgut und 1.474.000 Personen befördert. 1959 hatte das Streckennetz die folgende Ausdehnung:

Bialosliwie-Zaklady Przemyslowe 12 km
Zaklady Przemyslowe-Czajcze 5 km
Czajcze-Wysoka-Mosciska Wyrzyskie 19 km
Czajcze-Lobzenica-Liszkowo Rozgraniczenie 20 km
Liszkowo Rozgraniczenie-Witoslaw 11 km
Liszkowo Rozgraniczenie-Radzisz Rozgraniczenie 6 km
Zaklady Przemyslowe-Radzisz Rozgraniczenie 19 km
Radzisz Rozgraniczenie-Trzeciewnica-Naklo nad Notecia, 27 km
Trzeciewnica-Kasprowo 16 km
Kasprowo-Lukowiec 10 km
Lukowiec-Wawelno 6 km
Lukowiec-Wierzchucin Królewski 5 km
Kasprowo-Morzewiec 11 km
Morzewiec-Bydgoszcz 13 km
Morzewiec-Koronowo 12 km
Gesamtlänge 192 km

1994, als das Netz durch die PKP formell geschlossen wurde, hatte es eine Länge von 153,1 km. An die Ausdehnung des Netzes erinnert die im PKP-Büro von Bydgoszcz angetroffene Gedenktafel von 1982, die Eisenbahner ihrem Direktor geschenkt hatten.

Auf dieser grossformatigen PKP-Streckenkarte sind die verschiedenen Zweige des erhaltenen Streckennetzes dargestellt.

Eine grosse Resonanz hatte 1992 der Aufruf des deutschen Schmalspurenthusiasten Carsten RECHT. Seine Initiativgruppe bat westeuropäische Schmalspurfreunde um ihre Unterschrift unter einen Appell an die polnischen Bahnbehörden und Politiker, die historische einzigartige Strecke mitsamt ihrer Brücke in Koronowo zu erhalten. Innerhalb von wenigen Wochen erhielt INTERLOK als polnischer Koordinator der Aktion hunderte von Postkarten und Briefen.

Carsten RECHT erstellte auch einen möglichen Fahrplan für die Strecke, der die Belange der Region und auch interessierter Touristen in Einklang bringen könnte.

Dieser Fahrplan bezog sich auf die 1992 vorhandene Strecke. Die in der Betreibung teureren Dampfzüge sollten vor allem am Wochenende für Touristen vorgehalten werden, während in der Woche die Dieseltraktion das Feld beherrschen sollte. Diskutiert wurde auch, einen ca. 1 km langen Abzweig der Schmalspurbahn zum katholischen Kloster bei Lobzenica / Wysoka zu bauen, so dass die jährlichen Wallfahrten zum historischen Kloster mit der Bahn durchgeführt werden könnten. Zu einer Realisierung dieser Pläne kam es bislang nicht, da die Staatsbahn PKP an einem Erhalt der Strecke kein Interesse hatte und es privaten Betreibern oder Kommunen bis 2000 verboten war, eigenständig Bahnverkehr zu betreiben.

1992 organisierte INTERLOK mit der örtlichen PKP-Dienststelle auf dem gesamten Netz eine Reihe von Sonderfahrten, die zum 10-jährigen Jubiläum der Aktion in der polnischen Eisenbahn-Fachzeitschrift "Koleje Male i Duze" als "Sonderfahrt des Jahrhunderts" gepriesen wurden. Partner auf deutscher Seite war die JS-Filmproduktion und ein süddeutsches Spezialreisebüro. Hierzu holte INTERLOK die in ZNIN stationierte Dampflok Px38-805 nach Bialosliwie. Vor dem Bahnhofsbebäude (direkt gegenüber dem Normalspurgleis) paradierte sie zusammen mit der Orenstein+Koppel-Dampflok, die INTERLOK gerade passend zum Sonderprogramm für einen deutschen Kunden revidiert hatte.

Mit der O+K-Dampflok wurden unter anderem begeisterte Schulkinder einige Kilometer in den Wald gefahren.

Für den Film wurde mit der Px38 auch ein Sonderzug zur Schnapsbrennerei in Ga,dki nahe Naklo nad Notecia, (deutsch Nakel) gefahren, wo der Kesselwagen zünftig bis auf die Eisenbahnwaage vor dem Brennereigebäude vorfahren durfte, ganz so, als würde er wie zu alten Zeiten komplett mit Hochprozentigem beladen.

Weitere Hauptdarsteller waren auf Initiative von INTERLOK sowie des Eisenbahnvereins aus Poznan die Heeresfeldbahn-Dampflok (Brigadelok) von 1918, Tw 1112 von der Waldbahn Hajnówka, sowie der historische Lillpop-Schienenbus von 1934 mit dem Spitznamen "Ryjek" ("Schnäuzchen"), der bis zu ihrer Stillegung 1990 auf dem Schmalspurnetz der Jarociner Kreisbahn bei Witaszyce gefahren war.

Bestaunenswert war der Schmalspurbahnhof von Lobzenica, auf dem die beiden Dampflokomotiven ein Wettrennen übten. Im Bahnhof war noch das gesamte historische System des Eisenbahn-Streckentelefons funktionstüchtig.

Der Bahnübergang war durch eine mechanisch betätigte Schranke gesichert.

Spannend war die Befahrung des Geländes der Zuckerfabrik in Naklo (Nakel) in Dampf-Doppeltraktion. Wenig später baute die Fabrik ihr Schmalspurgleis ab, weil die Staatsbahn PKP als Betreiber der Bahn nicht bereit gewesen war, eine Bestandsgarantie von zumindest 10 Jahren zu geben.

Bewußt war der Zug aus unterschiedlichsten Wagen zusammengestellt worden, um die Vielfalt der Fahrzeuggeschichte des Netzes zu dokumentieren.

Die ländliche Idylle - Kühe inclusive - gab immer wieder interessante Fotomotive ab.

Die Kühe der Region staunten auch sonst nicht schlecht. Für die Filmarbeiten organisierte INTERLOK eine Kuh, die auf einen offenen Güterwagen verladen wurde und eine spannende Bahnfahrt spendiert bekam.

Beim Halt in dörflicher Umgebung, um aus dem Hydranten Wasser für die Dampflok abzuzapfen, waren die Dorfbewohner interessierte Zuschauer.

Spannendster Moment der denkwürdigen Sonderfahrten war die Überquerung der Brücke über die Brahe (Brda) bei Koronowo. Da diese Brücke seit Jahren nicht mehr benutzt worden war, hatte INTERLOK extra eine ingenieurtechnische Überprüfung bestellen und bezahlen müssen, um dann die beruhigende Antwort zu bekommen: Eine Befahrung ist möglich, aber bitte aus Sicherheitsgründen nur im Schritt-Tempo!

FOTO:Frank Heilmann, Eisenbahn-Kurier 7/1993

Leider stellte die PKP 1994 den Verkehr auf der Strecke endgültig ein. Im östlichen Teil des einstmals grossen Netzes liess die PKP die Schienen abbauen. Abgebaut wurden auch die imposanten historischen Verlade-Anlagen in Bialosliwie, die einen wesentlichen Teil der Güterverkehrs der Strecke effektiv von der Normal- auf die Schmalspur umgeladen hatten.

Diese Krananlage lud Kohle von normalspurigen Güterwagen auf schmalspurige Wagen um - man beachte das doppelte Gleis.

Diese oben gezeigte Umschlaganlage mit doppeltem Gleis füllte im Minutentakt Kohle von der oberen Ebene (rechts im Bild) auf die unten wartenden Schmalspur-Güterwagen (links im Bild).

Seit über einem Jahr haben die kommunalen Gebietskörperschaften von Bialosliwie und Landkreis Pila den Beschluss gefaßt, von der Staatsbahn PKP das 600 mm-Streckennetz zu übernehmen. Die örtlichen Eisenbahnvereine von Bialosliwie und Poznan zusammen mit INTERLOK könnten dann je nach konkreter Absprache die Betriebsführung auf der Strecke übernehmen. Doch durch bürokratische Hemmnisse seitens der PKP ist es zur Übergabe der Strecke bisher nicht gekommen. So sind die einzigen Möglichkeiten, um die Erinnerung an diese einzigartige Strecke aufrechtzuerhalten, weiterhin Sonderfahrten. Der Eisenbahnverein von Bialosliwie, dem INTERLOK als aktives Mitglied angehört, bemüht sich um Restaurierung und Instandhaltung von Fahrzeugen und Anlagen.

Inzwischen steht dem Verein aus Poznan für Sonderfahrten auch seine Dampflokomotive A. BORSIG Berlin-Tegel Fabrik-Nr. 11458 von 1925 zur Verfügung. Der Verein hatte sie vor einigen Jahren von den Stickstoffwerken in Chorzów (deutsch: Königshütte/Oberschlesien) übernommen, wo sie nach Beendigung des Betriebsdienstes unbeachtet am Straßenrand gestanden hatte. Den Kessel der Lok hatte INTERLOK zum Freundschaftspreis hauptrevidiert. Die Lokomotive insgesamt hatte 1999 ebenfalls zu Freundschaftskonditionen der Lok- und Waggonbauer H. Cegielski restauriert, der offiziell seine letzte Dampflok ... 1958 gebaut hatte!

Auf dem Foto anläßlich einer Sonderfahrt des Poznaner Eisenbahnvereins: Vereinsvorsitzender Ryszard PYSSA (vorne liegend) sowie die INTERLOK-Direktoren Henryk PALCZEWSKI (links) und Marek FURTACZ (3.von rechts).

Seit Mitte 2003 besteht neue Hoffnung für die Strecke. Zwar hat die Staatsbahn PKP immer noch nicht alle Formalitäten der Streckenübergabe an die Kommunalverwaltung erledigt. Doch der "Verein der Eisenbahnfreunde Bialosliwie" kann bereits, wenn auch noch ohne formelle öffentliche Transportgenehmigung, auf der Strecke den Betrieb aufnehmen. INTERLOK Pila beteiligt sich aktiv an der Arbeit des Vereins. Ende 2003 führte INTERLOK auf der Strecke eine Sonderfahrt durch, die in Ermangelung von Zweirichtungsfahrzeugen mit einem Personenwagen und zwei Dieselloks der Type WLS50 durchgeführt wurden.

(Alle Fotos: Hermann Schmidtendorf)

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